Aus der Wochenendzeitung vom 1. November 2025
Interview: Christian Berzins & Patrick Müller
In Bern fehlt ein Amt für Genuss
Philipp Schwander, der bekannteste Weinhändler der Schweiz, verteidigt Weintrinken gegen den Zeitgeist. Er kritisiert Gesundheitsbehörden und sagt: «Es gibt auch ein Leben vor dem Tod.»
Berzins, Müller: Welche Flasche haben Sie gestern Abend geöffnet?
Philipp Schwander: Ich muss Sie enttäuschen. Gestern gab es nur Kräutertee. Ich habe eine Erkältung eingefangen.
Sie gelten als Botschafter des Weins, aber zum Heilmittel erklären Sie ihn dann doch nicht?
Zumindest nicht gegen Erkältungen (lacht).
Wir kommen gerade vom Mittag- essen. Im Restaurant sieht man kaum mehr jemanden Wein trinken.
Wer mittags ein Glas Wein bestellt, wird fast schon wie ein Alkoholiker angeschaut. Zumindest in der Deutschschweiz. Früher war Wein ein Nahrungsmittel. Heute ist er fast etwas Anrüchiges geworden, auch wegen der Weltgesundheitsorganisation, der WHO.
Wird Wein dämonisiert?
Ja, die Diskussion ist völlig entgleist. Wein besitzt – wissenschaftlich belegt – positive Effekte. Doch statt differenziert zu argumentieren, wird pauschal verurteilt.
Die Wissenschaft sagt, es komme auf die Menge Alkohol an, egal in welcher Form man ihn konsumiere.
Das stimmt grundsätzlich: Entscheidend ist die Dosis. Doch selbst was die Menge angeht, gibt es viele Missverständnisse. Die WHO stützt sich gerne auf die Lancet-Studie von 2018. Diese behauptete, schon das erste Glas Alkohol sei schädlich. Kaum jemand weiss aber, dass es 2022 im Lancet eine Nachfolgestudie gab, die diese Falschaussage korrigiert hat. Sie wird einfach verschwiegen.
Es gibt Studien für und gegen alles.
Ich rede von seriösen Studien – die erwähnte Nachfolgestudie ist nicht die einzige. Da wären auch noch die NASEM-Studie im Auftrag des US-Kongresses oder jene der American Heart Association – alle zeigen eindeutig positive Effekte bei moderatem Alkoholkonsum. Und es gibt viele weitere, ausserdem sind jetzt zahlreiche hieb- und stichfeste Studien am Laufen. Nur hört man davon nichts, weil die militanten Alkoholgegner offensichtlich die Presse dominieren.
In Europa wird so wenig Alkohol getrunken wie seit 100 Jahren nicht. Ziel erreicht?
Den Aktivisten reicht das nicht, sie wollen Alkohol grundsätzlich verbieten. Sie sitzen oft in staatlichen Institutionen. Viele bei der WHO, in Bundesämtern oder in den EU-Kommissionen, die früher das Rauchen reguliert haben; jetzt wollen sie sich um den Alkohol kümmern. Es geht um ihre Daseinsberechtigung.
Nicht die Behörden, sondern die Jungen setzen die Trends. Sie dürfen sich «Master of Wine» nennen. So etwas schafft Ehrfurcht und Schwellenängste. Hat Weintrinken nicht auch ein Imageproblem?
Das stimmt. Die Gründe sind vielschichtig. Eine Amerikanisierung des Alltags spielt auch eine Rolle, eine Fast-Food-Mentalität. Früher sass man zusammen, ass und trank gemeinsam, nahm sich Zeit. Heute ist alles schneller, funktionaler. Und dann gibt es zugleich eine Bewegung, die fast krankhaft nur noch auf Gesundheit aus ist. In Teilen der Gesellschaft herrscht ein eigentlicher Langlebigkeitswahn.
Da passt Weinkonsum schlecht hinein.
Obwohl er – wie erwähnt, massvoll – für die Lebenserwartung sogar positiv ist. Mir greifen viele Longevity-Trends häufig zu kurz. Zudem: Es gibt auch ein Leben vor dem Tod!
Spricht da der Geniesser – oder der Händler?
Wein ist ein Kulturgut, das schlechtgeredet wird. Die Menschen sind gestresster als einst, haben keine Zeit mehr, etwas mit Freunden zu geniessen. Genuss gilt heute – nicht nur was den Wein betrifft – als unvernünftig. Er passt nicht in den Optimierungs- und Kontrollwahn. Viele tun alles, um gesund zu bleiben, aber vergessen, zu leben.
Trinken Sie denn regelmässig Wein?
Natürlich.
Eine Flasche zu zweit am Abend?
Mindestens. Wein ist Teil unserer europäischen Kultur, dahinter steckt viel mehr als nur ein Getränk. Seine Verteufelung ist ein Angriff auf die Lebensqualität und unsere Identität.
Jedenfalls gäbe es ohne Wein wohl viele Beziehungen nicht – und auch viele Kinder nicht.
Stellen Sie sich ein ausgelassenes Fest vor, an dem alle nur Wasser trinken.
Ist alkoholfreier Wein eine Alternative?
Er wirkt wie ein Erfrischungsgetränk. Beim Bier lassen sich die 4,5 Prozent Alkohol mit Hopfen aromatisch kaschieren, beim Wein sind 13 bis 15 Prozent Alkohol integraler Geschmacksträger. Nimmt man Alkohol weg, fehlen der Körper und das Fleisch; oft kompensiert man das mit Zucker, was ähnlich unvorteilhaft ist.
Sie beklagen die Verteufelung des Weins. Gleichzeitig hört man aber auch von Leuten, die keinen Alkohol trinken, sie müssten sich dauernd dafür rechtfertigen.
Ich empfinde diesen Druck als genauso falsch. Wir leben doch in einer freiheitlichen Gesellschaft – warum soll man sich überhaupt erklären müssen, was man trinkt oder isst? Selbst für ein fettes Stück Fleisch glaubt man sich heute rechtfertigen zu müssen.
Und Sie müssen sich entschuldigen, wenn Sie bei einem Essen mal keinen Wein trinken?
Ich mache mindestens einen alkoholfreien Monat pro Jahr; das erkläre ich kurz, und dann ist es kein Thema.
Zu jedem Trend gibt es einen Gegentrend. Sehen Sie Anzeichen?
Die Gesellschaft ist in Teilen wieder weniger bevormundend-moralistisch, «Wokeness» ist auf dem Rückzug. Einen eigentlichen Gegentrend sehe ich allerdings noch nicht. Der Pro-Kopf-Weinkonsum ist von 47 Litern im Jahr 2003 auf 24 Liter gefallen. Das ist okay, wenn es freies Verhalten ist, aber es ist nicht die Aufgabe der Politik, immer mehr Druck zu machen. Ständerat Beni Würth reichte zu den WHO-Empfehlungen eine Interpellation ein. Die Antworten des Bundesrates zeigten: Das muss jemand vom BAG geschrieben haben.
Wie meinen Sie das?
Die Gesundheitsbehörden negieren die neuesten Studien und den Umstand, dass nur rund 3 % der Bevölkerung Alkoholiker sind. Man kann doch unmöglich einen derart radikalen Feldzug gegen den Alkohol lostreten. In Bern fehlt ein Amt für Genuss!
Alkohol kann schlimme Folgen haben, sogar tödliche.
Mit Küchenmessern wurden auch schon Menschen ermordet. Aber weil die meisten Menschen Küchenmesser zweckmässig verwenden, sind sie akzeptiert. Das Absurde: Während das Glas Wein verteufelt wird, werden gewisse Drogen heute eher verharmlost.
Ist Wein keine Droge?
Nein, er ist ein Kulturgut. Aber Alkohol kann zweifellos abhängig machen. Nur: Verglichen mit Koks ist das Risiko deutlich geringer.
Zurück an die Bar: Warum bestellt ein junger Mensch dort keinen Wein?
In der Schweiz ist Wein oft teuer – und in vielen Bars schlicht scheusslich. Wer will schon 15 Franken für ein Glas aus einer seit Tagen offenen Flasche zahlen? Hinzu kommt: Junge lieben Marken.
Winzer sind keine Marken?
Bei Bier und Spirituosen haben wir globale Brands. Heineken sponsert die Champions League und die Formel 1. Weingüter sind meist klein, es gibt nicht viele, die weltbekannt sind. Die meisten Winzer können sich eine derart massive Werbung nie leisten.
Es gibt aber trotzdem berühmte, überzahlte Weine!
Die Macht dieser Namen ist riesig. Das sieht man oft bei Blindproben, in denen ich berühmte Weine neben zwanzigmal preiswerteren Weinen serviere. Wird dann aufgedeckt, sagen viele, «mit mehr Luft wird jetzt der teure Wein immer besser».
Was ist das grösste Fettnäpfchen, in das Laien beim Weintrinken tappen können?
Wenn sie versuchen, die Fachsprache zu imitieren. Dieses Gerede von «Sumatra Tabaknoten mit gerösteten Weichselkirschen» oder vom «mineralisch puristischen Charakter» ist einfach lächerlich. Beim «Master of Wine» wurde uns gesagt: Beschreibe den Wein so, dass es jeder versteht.
Viele merken nicht einmal, wenn ein Wein Zapfen hat.
Das ist manchmal sogar für einen Profi schwierig. Es gibt leichte Korknoten, die sich erst nach ein paar Minuten entfalten. Dann ist die Flasche schon halb leer.
Wie lange bleibt eine geöffnete Flasche gut?
Sehr unterschiedlich. Als Faustregel: 1 bis 2 Tage. Wir arbeiten mit Vakuumverschlüssen, so hält sich der Wein bis zu zwei Tage. Oxidativ ausgebaute Weine, solche, die lange im Holz waren, kippen schneller; reduktive, frische halten oft etwas länger.
Wie steht es um den Schweizer Wein?
Wir haben mittlerweile exzellente Weine in der Schweiz – dank der Importöffnung von 2001. Leider gibt es vor allem in der französischen Schweiz Winzer, welche die Import-Kontingentierung wieder einführen möchten. Ungeheuerlich: Sie möchten diese noch an die Inlandleistung binden, dadurch würden sie den Weinhandel ruinieren.
Ist Schweizer Wein zu teuer?
Ich finde nicht. Die Nachfrage macht den Preis. In der Bündner Herrschaft kostet eine Top-Flasche am Markt schnell 60 Franken bei Kosten von etwa 12 Franken. Aber: Ein Bordeaux Premier Cru für 500 Franken kostet übrigens auch etwa 12 Franken in der Herstellung.
Ich habe nächsten Samstag Gäste und will sie mit einem Schweizer Weisswein und einem Schweizer Rotwein beeindrucken – ohne mich zu ruinieren. Was empfehlen Sie?
Und es soll ein Schweizer sein?
Ja.
Also, spontan: Für Weiss würde ich einen Petit Arvine von Gérald Besse nehmen. Beim Rotwein würde ich einen gereiften Chambleau Pinot Noir «Pur Sang» aus Neuenburg öffnen.
Sie hätten wohl lieber einen Franzosen empfohlen. Wohin bewegen sich da die Preise?
Die Kunst besteht darin, grossartige Weine zu entdecken, bevor sie berühmt und teuer werden. Wir erleben eine spannende Zeit. Man kann heute sehr gute Weine zu günstigen Preisen einkaufen. Aber zum Glück purzeln jetzt auch die Preise der teuren Weine.
Diese ständigen Aktionen mit 20 oder 30 Prozent Rabatt – sind das Alarmzeichen für Händler?
Viele Händler arbeiten permanent mit Rabatten. Wer die Preise genau anschaut, erkennt: Der Preis nach dem Rabatt wäre oft der eigentliche Normalpreis.
Was ist für Sie ein günstiger Wein?
Zwischen 12 und 16 Franken die Flasche. Bei Rotwein mit Fassausbau landet man fast immer bei rund 15 Franken. Darunter wird es schwierig. Aber für 15 Franken kann man bereits sehr gute Weine bekommen, die viel Freude bereiten.
Und merkt man im Glas, ob ein Wein 30 oder 300 Franken kostet?
Nicht immer. In Blinddegustationen können günstige Weine erstaunlich gut abschneiden.

