Im Wein ist Weisheit
Aus Finanz und Wirtschaft vom 17.08.2024 / von Manfred Bösch
(Manfred Rösch hat bis zu seiner Pensionierung im Januar 2024 das Ressort Meinung von FuW geleitet)
In den Weinbergen wird in diesen Wochen geerntet. Kein gewöhnliches Gewächs, sondern ein spirituell aufgeladenes: Die Trauben wandeln sich zum Kulturgut Wein.
Schöner lässt sich der Übergang vom Sommer zum Herbst nicht in Sprache fassen, als es Rainer Maria Rilke 1902 vollbracht hat, frohgemut und wehmütig zugleich. Er spricht darin, natürlich, auch die Zeit der Traubenlese an, in der zweiten Strophe: «Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süsse in den schweren Wein», so ruft der Dichter Gott an. Der Herr dürfte Rilke heuer einmal mehr erhört haben. In südlicheren Lagen sind die letzten Früchte schon gelesen, auf Sizilien etwa, im Languedoc-Roussillon. Auf den Jahrgang wird man sich freuen dürfen; das Werk der Winzer wird Anklang und klingende Münze finden.
Nicht dass es Rilke, oder den vielen anderen Wein-Poeten, ums prosaische Marketing ginge. Doch «in vino pecunia » ist eben auch eine Wahrheit. Wein ist ein landwirtschaftliches Erzeugnis, eine schnöde Commodity, in die es sich investieren lässt: Direkt durch Erwerb edler alter Tropfen in der nicht unbegründeten Spekulation, solche «cadaveri eccellenti» würden nach wenigen Jahren sogar noch teurer werden. Daran zeigt sich beispielhaft der Veblen-Effekt (ein Theorem des amerikanischen Ökonomen Thorstein Veblen), demzufolge die Nachfrage nach bestimmten Prestigegütern sogar dann noch steigt, wenn sie fortlaufend teurer werden – gesellschaftlicher Status, koste es, was es wolle.
Indirekt investieren lässt es sich in Weinaktien, die es etwa im amerikanischen Handel gibt. Sie gehören zu den «Sin stocks», den Sündenpapieren, zusammen mit Aktien von Alkoholkonzernen generell, von Tabakverarbeitern, Glücksspielcasinos, Frivolitätenkrämern, Waffenschmieden. Unethische Investments, wie der Bannspruch lautet. Doch der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt, die Nachfrage nach allerlei Teufelszeug ergo robust, sowie in der vermuteten Unterbewertung (weil sich Institutionelle fernhalten).
«Schon Platon wird zitiert, der Wein sei ein, ja das Geschenk der Götter.»
Profanierung des Sakralen
Die wahre Sünde freilich ist die renditeorientierte Profanierung des Weins auf dem Markt, nicht dessen Genuss. Wein, mit Hingabe, Qualitätsdrang, Gespür für Traube und Terroir und, vor allem, Geschichtsbewusstsein gewonnen, ist ein Kulturgut. Ein Glas vom Besseren ist daher zu zelebrieren wie ein Gedicht, ein Gemälde, ein Gesang oder gar alles in einem: Die sinnlich-geistigen Eindrücke sind unentwirrbar verwandt. Guter Wein ist ein «Somewhere»: Lokal, urwüchsig, fürwahr verwurzelt. Massenware hingegen, und käme sie in Blinddegustationen noch so gut an, ist ein «Anywhere », mit Laborwissen optimiert, zwar verlässlich süffig, doch am Ende seelenlos (dieser Prozess wird da und dort staatlich gefördert; so wird im bäuerlich geprägten Burgund die Erbschaft eines Familienbetriebs derart kleptokratisch besteuert, dass zunehmend anonyme Finanzgesellschaften einspringen). Darin spiegelt sich die Soziologie der Globalisierung: Der Flughafen-Typus, der überall auf dem Erdball mit businessmässig Seinesgleichen zurechtkommt, mag makellosen Somewhere-Wein trinken, der Geerdete hingegen (böse Zungen würden sagen: Provinzler), der die traditionelle Lebensweise schätzt, schlürft widerborstigeres heimisches Schaffen. Dies als quasi die zwei Enden der Skala.
Es sei hier pflichtschuldig der Disclaimer eingefügt: Niemand muss Wein, Alkohol überhaupt mögen, die Leiden infolge Alkoholmissbrauchs sind schrecklich. Voilà. Suff, erst recht im Kollektiv, ist widerwärtig; zu denken ist an die immerhin ausser Mode gekommene Unsitte des «Botellon».
Doch was das Kulturgut Wein anbelangt: Rilke wendet sich in Sachen Oechslegrade nicht umsonst gleich an die höchste Instanz. Schon der altgriechische Denker Platon wird zitiert, der Wein sei ein, ja das Geschenk der Götter (auf dem Olymp in Mehrzahl). Dionysos war der für Wein und Rausch zuständige Gott; er stand sowohl für die mit massvollem Weingenuss verbundenen Symposien, heitere Gesellschaften, wie auch für die wegen übermässiger Erfrischung ausufernden Gelage. Das Sakrale des Weins ist auch in der christlichen Lehre unübersehbar; es kommt in der Eucharistie – der Präsenz Christi in der Gestalt von Brot und Wein – zum Ausdruck. Im Judentum gehört zu jedem Sabbat Wein auf den Tisch. Wein ist nicht nur vergorener Traubensaft, sondern hat eine spirituelle, rituelle Funktion.
Doch seit es diesen Trunk gibt (Reben, Oliven und Getreide sind die ältesten Nutzpflanzen), erklingen auch die Mahnungen zur Enthaltsamkeit. Schon der legendäre König Salomon soll geklagt haben: «Das starke Getränk macht wild. Und keiner, der sich damit berauscht, wird weise.» Der Reformator Martin Luther schimpfte zwar laut über das verbreitete Saufen in deutschen Landen, soll aber selbst der Anfechtung durch den Wein nicht widerstanden haben. William Shakespeare wiederum wusste schlicht: «Guter Wein ist ein gutes, geselliges Ding, wenn man mit ihm umzugehen weiss.»
So oder so ist Wein für die abendländische Kultur «systemrelevant». Der Connaisseur Sir Roger Scruton (1944-2020), ein herzerfrischender Konservativer, sagt, Wein sei so alt wie die Zivilisation, ja: Wein sei Zivilisation schlechthin. Der Unterschied zwischen zivilisierten und unzivilisierten Ländern liege just darin, ob Wein getrunken werde oder nicht. Das ist überspitzt. Japan etwa war ohne Rebbau schon lange hochverfeinert kultiviert, als der Alltag in Europa trotz fassweise Wein noch sehr ungehobelt war, doch einige Volumenprozent Wahrheit wollen wir Scrutons Befund zubilligen.
Bäche voll im Jenseits
Das Morgenland ist nicht einfach eine weinfreie und somit gemäss Scruton unzivilisierte Zone. Die Haltung des Koran ist schillernd. Einerseits ruft er hienieden gestreng zur Temperenz auf, verheisst jedoch in der Sure 47 ein Paradies durchflossen von «Bächen mit Wein, der köstlich ist für diejenigen, die davon trinken». Heute herrschen namentlich im Iran Finsterlinge, die ihres diesseitigen Lebens sichtlich nicht froh sind, wo es doch im alten Persien mitunter ausgesprochen raffiniert zuging. Der Astronom und Mathematiker Omar Khayyam entgegnete ums Jahr 1100 den Zeitgenossen, die das Prophetenwort gedankenlos repetierten statt mit Geist interpretierten: «…lieber ein wenig Essen, eine Angebetete und etwas Wein auf einer grünen Halde – das ist Reichtum, behalte für dich den Himmel…».
Heute wäre Omar ein Ketzer und würde von den Buchstaben-Frommen verfolgt. Das widerfuhr seinem Landsmann Hafis im 14. Jahrhundert wegen Versen wie «Bring Wein, dass wir den Kummer niederkämpfen, bring Wein, dass wir die Sorge weit verjagen!» Hafis‘ letzter Wille war es, in einem Fass voll Wein begraben zu werden (an die Bäche im Jenseits glaubte er wohl nicht). Doch die Verbindung zu dieser gediegenen Kultur ist vielenorts, nicht überall, in der islamischen Welt abgebrochen. Schade, die Verständigung, der westöstliche Diwan sozusagen, wäre heute leichter. In England, wo Zurüstungen zum Bürgerkrieg zu beobachten sind, ginge es allen besser, würden die einen weniger Bier bechern («lauwarme Cervisia», wie Obelix und Asterix bei den Briten schmähten), die anderen dafür ab und zu ein Gläschen Roten suckeln.
Wo Sir Roger uneingeschränkt recht hat: Wein ist ein exzellenter Begleiter zu guten Speisen, doch ein noch besserer zum Nachdenken und zu gepflegter Unterhaltung. Schier unübersetzbar ist sein kluger Kalauer: «…by thinking with wine you can learn not merely to drink in thoughts, but to think in draughts». Wein, genossen zur rechten Zeit, am rechten Ort, in der richtigen Gesellschaft (plus, eingeschoben, mit richtigem Mass) sei der «Pfad zur Meditation und der Vorbote des Friedens.» Darauf sei angestossen. Manfred Rösch hat bis zu seiner Pensionierung im Januar 2024 das Ressort Meinung von FuW geleitet.